ein Interview von Juliette Domgall, Q12

Vor einiger Zeit erschien der 1. Teil des Interviews, das man hier nachlesen kann.
„Freiheit ist doch das höchste Gut im Leben“
Im ersten Teil des Interviews von L. Bräuer über seine Flucht aus der DDR in die BRD haben wir einiges über die damalige Lebenssituation des „Grenzverletzers“, seinen Weg bis hin zur Flucht und den Abschied von seinen Mitmenschen erfahren dürfen. Zuletzt erzählte uns L. Bräuer zudem, für welches „Gepäck“ er sich vor seiner Abfahrt in die Freiheit entschied. Doch ist unserem Interviewpartner die Flucht in die BRD gelungen? Im zweiten Teil könnt ihr nun erfahren, ob es womöglich Komplikationen während der Flucht gab und ob L. Bräuer Konsequenzen aufgrund seiner Republikflucht ertragen musste. Neben den Risiken, sein Leben aufs Spiel zu setzen, klärt er uns in dieser Fortführung des Interviews darüber auf, ob er seinen Fluchtversuch bereut, ob er psychische Folgen nach der Flucht hatte und wie er die Wende miterlebte.
Herr Bräuer, wie verlief Ihre Flucht?
Mein erster Flugansatz spielte sich wie folgt ab. Ich war erst einmal an die tschechische Grenze gefahren, wo ich zunächst unter Schikanen ausgefragt wurde. Ich musste mein Motorrad komplett zerlegen und die Verkleidungen abnehmen, damit auch ja sicher gegangen werden konnte, dass ich nirgendwo etwas versteckt hatte. Dann wurde nach D-Marks und sonstigen Papieren gesucht, eben auf irgendeinen Hinweis einer Flucht. Ich war natürlich aber intelligent genug, nichts dabei zu haben. Ich wurde dann stundenlang an der Grenze aufgehalten, wobei letztendlich selbstverständlich nichts gefunden wurde. Dann durfte ich alles wieder einpacken und bin anschließend im strömenden Regen weitergefahren. In Tschechien habe ich in einer Pension übernachtet, bevor ich am nächsten Tag nach Ungarn weitergefahren bin. Dort bin ich in einem Lager am Plattensee in Zanka angekommen. In diesem ehemaligen Pionierlager wurden die DDR-Bürger erst einmal untergebracht, damit die Menschen eine Unterkunft hatten. Mein Motorrad konnte ich ebenfalls abstellen und später habe dann mit achte fremden Leuten in einem Zimmer übernachten können. Viele mögen jetzt vielleicht denken, naja, mit acht Menschen, die Einem fremd sind, übernachten – keine schöne Vorstellung. Ich war aber ganz froh, dass ich diesen Schlafplatz hatte und es was zu essen gab und ich nicht unter der Brücke schlafen musste. Zunächst war also alles erstmal gut soweit. Zu meiner Unterkunft sind dann bekannte Freunde gekommen, die 1984 per Ausreise in die BRD gegangen waren. Meine Bekannten haben in Erding gelebt und haben mich in dem Lager besucht. Also zunächst erstmal gesucht, es war ja nicht ganz so einfach, jemanden unter ca. 4000 Menschen zu finden. Als sie mich schließlich gefunden hatten, schmiedeten wir einen Plan, wie ich über die Grenze flüchten könne. Wir sind kurz darauf eines Abends losgefahren, ich hatte meine Motorradlederkombi an, habe meine Klamotten und mein Motorrad stehen gelassen und bin bei ihnen ins Auto eingestiegen, womit wir dann Richtung Grenze gefahren sind. Die Grenze war schon vorher bewacht, wo wir sogar in eine Grenzkontrolle gerieten. Dort dachte ich, jetzt haben sie mich. Ich weiß noch, wie ich mich hinter dem Rücksitz versteckt und ganz klein gemacht habe und entweder war der Grenzwächter so nett und wollte mich nicht sehen, denn es wurden nur die vorne Sitzenden kontrolliert, oder ich hatte einfach Glück. Meine Freunde meinten dann zu den Grenzwächtern, sie würden sich die Gegend anschauen wollen, hatten irgendwelche Ausreden, und dann durften wir weiterfahren. Es war schon dunkel, als wir danach an einen Waldrand gefahren sind, wo ich erstmal in den Kofferraum gestiegen bin, um nicht direkt entdeckt zu werden. Dann sind wir direkt und ziemlich nah an die Grenze gefahren. Daraufhin wollten sich die beiden erstmal die Grenzregion etwas genauer anschauen und ich sollte in der Zeit im Straßengraben warten. Dort habe ich dann auf meine Freunde gewartet, während sie Richtung Grenze gefahren sind, und leider, es gab ja noch keine Handys mit denen wir uns im voraus informieren hätten können, haben wir uns eine Gegend rausgesucht, wo wenig Wald war, Hunde mit meterlangem Laufleinen vor Ort waren, und die Grenzer tatsächlich auch Gewehre im Anschlag, also am Rücken, mit sich herumtrugen, um jederzeit schießbereit zu sein. Die Gegend war also absolut ungeeignet. Da haben wir dann beschlossen, das Ganze abzubrechen, weil es einfach zu gefährlich war. Wie gesagt, mein Leben wollte ich nicht aufs Spiel setzen. Die beiden haben mich dann zurück zum Lager gefahren, und als ich zurückkam, musste ich zunächst leider feststellen, dass mein Mottorad in dieser Nacht gestohlen worden war, was natürlich hart war, wenn man dann sozusagen gar nichts mehr hatte. Darüber war ich auch sehr traurig, bin nach all dem entmutigt in das Lager rein und habe mit meinen Bekannten aus Erding ausgemacht, dass sie das darauffolgenden Wochenende wieder kommen sollten. Sie wollten sich in dieser Zeit besser erkundigen, ob und wo es eine bessere Stelle gäbe, um die Flucht anzutreten. Ich wartete dann bis zu dem Wochenende ab, doch in der Zwischenzeit wurden wir 4000 Menschen, die den Fluchtgedanken teilten, in einer Turnhalle zusammengebracht, da es wohl Neuigkeiten gäbe. Dort wurde uns von den Leuten vom bayerischen Roten Kreuz bekannt gegeben, dass wir alle ausreisen dürften. Kohl und Genscher hätten verhandelt, dass wir alle rauskommen. Keiner sollte mehr irgendein Risiko eingehen. Es wäre nur eine Frage der Zeit, bis wir alle in die BRD kommen würden. In dem Lager wurde später auch eine Botschaft eingerichtet, wo wir alle unsere Ausweise und Reisepässe bekommen haben und dann hat es wirklich nur noch fünf, sechs Tage gedauert, bis es losging. Ich habe meinen Freunden für das kommende Wochenende natürlich auch abgesagt, sie würden nicht mehr vorbei kommen müssen, weil sich das Risiko nicht mehr rentierte. Und dann sind tatsächlich 80 österreichische Busse vorgefahren und haben das ganze Lager leergeräumt. Da bin ich dann mit meinen zwei Motorradkoffern, die ich ja noch übrig hatte, meinem Rucksack und meinem Helm in den Bus eingestiegen und Richtung Trostberg gefahren, was unser erstes Aufnahmelager in der Bundesrepublik war. Angekommen ging es dort zunächst sehr turbulent zu. Ich hatte grad meine Unterlagen alle beisammen, als eine Bombendrohung kam. Dafür hatte die Stasi gesorgt, um uns nochmal alle in Aufruhr zu versetzen. Wir mussten damals alles stehen und liegen lassen und wurden evakuiert. Doch auch dieses heillose Chaos haben wir überstanden. Zwei bis drei Tage später habe ich dann ein Ticket für den Zug zu meinem Onkel nach Hamburg bekommen und bin dann damit durch die ganze Bundesrepublik zu ihm gereist.
Hatten Sie Angst vor Konsequenzen?
Selbstverständlich. Die Angst war immer ein treuer Begleiter auf meiner „Reise“. Ich habe damals eine Republikflucht begangen und diese war mit viele Jahren Gefängnisstrafe ausgesetzt. Die Angst vor möglichen Konsequenzen saß mir also immer im Nacken.
Haben Sie ihre Flucht bereut?
Nein, keinen einzigen Tag.
Ich hatte damals meine Eltern in Hamburg am Bahnhof abgeholt, die zur Silberhochzeit meines Onkels kommen durften, während ich mich schon in der BRD aufhielt. Wir sind dann später gemeinsam zu den Freunden nach Erding gefahren, wo es schließlich nicht nur für mich, sondern auch aus arbeitstechnischen Gründen für meine Eltern besser als in der DDR war. So sind wir dann in der Gegend sesshaft geworden. Zuerst haben wir in einer Pension Zuflucht gefunden, die uns auch zunächst bezahlt wurde, was wir später zwar zurückzahlen mussten, aber es war zumindest erstmal eine Unterkunft. Dort haben wir dann auch erfahren, dass die Grenzen geöffnet wurden. Das war für uns erst einmal ganz fremd und erstaunlich, dass da Menschen auf der Mauer standen, diese kaputt machten und einfach rübergingen, nachdem ich ja die ganze Fluchtsituation erfahren und die Flucht in Angriff genommen hatte. Aber selbst da war keine Spur eines Gefühls von einem Wunsch, wieder zurück zu wollen. Ich habe ja auch eine super Arbeit gefunden und keinen Tag bereut, bis heute nicht.
Waren Sie vor der Wende nochmal in der DDR?
Ja, ich war gleich 1989 zu Silvester mit dem Zug nach Dresden gefahren, um meine Freunde zu sehen, weil ich es einfach nicht glauben konnte, dass die Grenzen wieder offen waren. Das war sehr erstaunlich.
Wozu brauchte man Ihrer Meinung nach mehr Mut, zu bleiben oder zu gehen?
Ich denke zum Gehen brauchte man mehr Mut. Das Bleiben war insofern einfacher, weil man das Risiko, getötet oder eingesperrt zu werden, nicht hatte. Wären die Grenzen zugeblieben, hätte jeder selbst entscheiden müssen, ob er/sie seine Gesundheit und Freiheit aufs Spiel setzten möchte, um mehr Freiheit zu erhalten. Viel freier als vorher zu sein, reisen zu könne, dafür aber so ein hohes Risiko einzugehen, das hätte jeder selbst für sich abwägen müssen, so wie es auch die Leute taten, die wie ich vor der Wende eine Grenzflucht begingen.
Kannten Sie Menschen, die bei ihrer Flucht gestorben sind oder Konsequenzen durch ihr Handeln erfahren mussten? *
Jemand, der bei seinem Fluchtversuch sterben musste, kannte ich nicht. Ich hatte jedoch eine/n Bekannte/n, die/der etwas später nach meiner Flucht versucht hat, über Polen in die deutsche Botschaft in der BRD zu kommen. Die Person war im Winter durch die Neiße geschwommen, um nach Polen zu kommen und wurde dort jedoch von polnischen Grenzbeamten aufgegriffen. Diese haben ihr/ihm anschließend gesagt, sie würden sie/ihn in die Botschaft bringen, haben sie/ihn dann aber in einem LKW in die DDR zurückgebracht. Dort wurde die Person von der Stasi erwartet, die ihre/seine Zähne ausschlugen und ihre/seine Knie mit Eisenstangen demolierten. Sie/er meinte, sie/er lag, ohne zu wissen wie lange, in einem Viehwagon mit anderen, die ebenfalls flüchten wollten, tagelang eingesperrt. Versorgt wurde er/sie nur mit Trinken. Bis heute hat die Person seelische Probleme aufgrund dieses Vorfalls.
Können/konnten Sie bei sich auch psychischen Folgen nach der Flucht beobachten?
Ich sag mal so, mich hat die ganze Flucht gestärkt. Mir wurde Gott sei Dank kein körperlicher Schaden zugefügt. Mich konnte das mental stärken. Wenn heute irgendwelche Probleme auftauchen, die vielleicht nicht ganz so schön sind, geh ich auch da gestärkter hervor und kann verschiedene Situationen auch lockerer wegstecken als andere Menschen, denke ich.
Wie haben Sie den Tag des Mauerfalls erlebt, Herr Bräuer?
Wie ich vorhin schon angerissen hatte, war es erstaunlich, wahnsinnig, dass da die Mauer gefallen ist.
Ich habe mich aber wirklich für jeden gefreut. Freiheit ist doch das höchste Gut im Leben. Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen, da so eingesperrt zu sein. Sicher lebte man nicht
In einem Gefängnis, aber allein der Gedanke, das ich heute hingehen darf, wo ich will, in die USA fliegen kann, wenn ich das unbedingt möchte, dann geht das. Das war damals ja nicht möglich. Ich weiß noch ganz genau, wie wir damals am 09. November 1989, wie jeden Abend, Nachrichten geschaut haben, und beobachten durften, wie dieses Missverständnis, ausgesprochen von Günter Schabowski die Grenzen öffnete. Unfassbar.
32 Jahre Deutsche Einheit, wie fühlt sich das für Sie an?
Für mich, ich bin beruflich sehr viel in Deutschland unterwegs, fühlt es sich jedes Mal gut an, wenn ich zum Beispiel auf Autobahnschildern Stuttgart oder Heilbronn lese, diese ganzen westdeutschen Gebiete und Städtenamen. Ich habe auch viel in Berlin zu tun und gehe dort auch fast jedes Mal durch das Brandenburger Tor, vor dem ich früher als kleiner Junge immer davor gestanden bin. Es ist jedes Mal wunderschön.
Trotz Mauer, Stacheldraht, Schießbefehl und schwerer Konsequenzen nahmen viele DDR-Bürger das Risiko auf sich, zu flüchten. Die Flucht in den Westen stimmt in gewisser Weise sehr gut dem Sprichwort „Viele Wege führen nach Rom“ zu, da hier die Möglichkeiten vielfältig waren, sowie auch die Gründe für solch eine Tat, die sich sehr individuell gestalteten. Nachdem die SED das Grenzregime ausbaute, ihre Kontrollsysteme ausweitete und mehr Personal zur Grenzsicherung herangezogen wurde, konnten in den 1980er Jahren ca. 80% der Grenzverletzer bereits vor Erreichen der Grenze verhaftet werden. L. Bräuer hat es geschafft und wurde mit seiner erfolgreichen Republikflucht zum Zeitzeugen für uns. Jemand, der uns vielleicht etwas näher bringen kann, wie gut wir es haben und welches Privileg wir heute in Deutschland genießen, in Freiheit leben zu können. Vielen Dank Herr Bräuer für das aufschlussreiche und interessante Interview.
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