Leben in einer Diktatur und Sehnsucht nach Freiheit – Flucht aus der DDR: TEIL 1

ein Interview von Juliette Domgall, Q12

Tunnel, Treppe, Sonnenlicht, Schritte, Sonne

Vor 60 Jahren, in der Nacht zum 13. August 1961, ließ die DDR die Mauer errichten, die den Weg von West nach Ost versperren sollte. Deutschland wurde in zwei Hälften geteilt. Bis zum Mauerbau 1961 flohen ca. 2,8 Millionen Menschen nach der Gründung der DDR 1949 in die BRD. Nachdem die Berliner Mauer gebaut war, war die Flucht nur noch unter großen Gefahren und hohem Risiko möglich. Tausende DDR-Bürger entschieden sich trotzdem dazu, zu fliehen. Hunderte ließen dabei ihr Leben, wurden von Grenzsoldaten erschossen oder starben beim Fluchtversuch. Der BMW-Mitarbeiter L. Bräuer, heute wohnhaft in der Nähe von Landshut, entschied sich für den Weg der waghalsigen Flucht in den Westen und galt damit als sogenannter „Grenzverletzer“. Im Folgenden werdet ihr von Herrn Bräuer alles über den Traum in den Westen zu gehen, über den Plan eines Fluchtversuchs, bis hin zum Abschied von seinen damaligen Mitmenschen erfahren. Ein Gespräch über das Leben in der DDR, Freiheitssuche und folgenreiche Lebensentscheidungen.

Herr Bräuer, wie war Ihre persönliche Situation bis zum Zeitpunkt Ihrer Flucht aus der DDR in die BRD?

Ich war damals 18 Jahre alt, war ledig, hatte also keine Freundin und war gerade dabei meine Lehre zu machen. Die politische Situation war angespannt und von der Öffnung der Grenzen war ebenfalls keine Spur. Ich hatte damals einen Onkel, der im Westen gewohnt hatte. Von ihm wurden wir einige Male besucht, wodurch ich auch immer mal wieder was von der Freiheit mitbekommen habe, die ja in der BRD ausgelebt werden konnte.

Haben Sie schon immer davon geträumt, in den Westen zu gehen?

Ja. Der Traum hat sich ca. mit 16 Jahren bei mir gefestigt. Wir hatten in der Schule politischen Unterricht, was mir persönlich nicht wirklich gefallen hat, da ich ja wie gesagt durch die Besuche von meinem Onkel die Welt noch ein bisschen anders kennenlernen durfte, als er zum Beispiel von seinen Spanienurlauben erzählte. Bei uns in der DDR war die Freiheit sehr eingeschränkt. Man hatte nur verschiedene Ostblockstaaten besuchen dürfen. Was viele nicht mehr wissen, es gab damals ja sogenannte Intershops, in denen man dann als Kind drinstand und es Westspielzeug, Haribo, Kassetten, generell einfach bestimmte Waren zu kaufen gab, die es im Osten nie oder nur ganz selten gab. Da haben sich dann schon gewisse Kinderträume entwickelt. Und wie gesagt, mit 16 Jahren, mit der politischen Situation, dann gewisse Dinge niemals sehen oder haben zu können, niemals in Spanien gewesen zu sein, das waren einfach Punkte, mit denen ich unzufrieden war. Schließlich ist dadurch dann eben der Gedanke gereift, okay, ich mache meine Lehre jetzt so gut wie möglich zu Ende und danach möchte ich die erste bestmögliche Chance nutzen und aus der DDR flüchten. Dabei habe ich aber immer für mich gesagt, ich werde mein Leben nicht direkt aufs Spiel setzen. Deutsch-Deutsche Grenze wäre für mich also nie in Frage gekommen, weil dort ja wirklich scharf geschossen wurde. Da habe ich lieber auf eine andere Möglichkeit gewartet.

Haben Sie auch Westpakete zugeschickt bekommen, die Ihre Sehnsucht in der BRD leben zu können letztendlich verstärkt haben?

Jedes Jahr zu Weihnachten haben wir von meinem Onkel aus Hamburg solch ein Paket zugesendet bekommen, in dem Sachen drin waren, die es im Osten nicht wirklich zu kaufen gab. Darunter war zum Beispiel Dosenananas oder Kaffee, der besonders gut geschmeckt und Waschpulver, was sehr gut gerochen hat. Da haben wir uns immer sehr drüber gefreut und natürlich auch wieder gemerkt, was man in der DDR nicht kaufen konnte.

Was war mit Ihrer Lehre, haben Sie diese vor der Flucht noch beenden können?

Ja, das war auch von Anfang an so geplant. Im Frühjahr 1989 fingen ja die Belagerungen der Botschaften von Tschechien und Ungarn durch DDR-Bürger an und im August dieses Jahres hatte ich dann meine Lehre beendet. Ich war dann sozusagen in meinem ersten Arbeitsmonat, hab dann 14 Tage gearbeitet und bin dann nach Ungarn in den “Urlaub” gefahren.

Wie ist es dann zu Ihrem Fluchtversuch gekommen?

Durch die Belagerung der Botschaften, ergab sich für mich die Chance, mein Leben nicht direkt riskieren zu müssen und über die ungarische Grenze flüchten zu können. In Sopron, in Ungarn, wurden im Frühjahr Hunderte über die Grenze nach Österreich rausgelassen, als diese geöffnet wurde. Das konnte ich dann glücklicherweise im Fernsehen mitverfolgen, da wir zu diesem Zeitpunkt erst ganz neu Westfernsehen bei uns in Dresden empfangen konnten. Im August wurde dann am Plattensee ein neues Lager für die Menschen, die flüchten wollten, aufgemacht und das war dann auch mein erster Zufluchtsort, den ich mir vorgenommen hatte. Dort wollte ich erstmal hin und dann weiterschauen, dass ich von da aus über die grüne Grenze komme, oder ob sich noch andere Möglichkeiten ergeben, zu flüchten, was ja schlussendlich dann auch der Fall war.

Wie war der Abschied von Ihren Mitmenschen, bevor Sie Ihren Plan in die Tat umsetzten?

Von Freunden konnte ich mich nicht offiziell verabschieden. Das war gar nicht möglich. Hätte ich meinen Fluchtgedanken geäußert, dann wäre die Stasi vor meiner Tür gestanden und hätte mich abgeholt und weggesperrt. Ich erinnere mich noch an eine Feier, wo ich mich im Prinzip innerlich von meinen Freunden verabschiedet habe. Für mich war das sozusagen die Abschiedsfeier. Was mir natürlich ebenfalls schwergefallen ist, war der Abschied von meinen Eltern oder generell von meiner Familie im Osten. Das waren auch die einzigen Menschen, die von der geplanten Flucht wussten. An dem Morgen, an dem ich später dann wegfahren wollte, hat mein Vater auch mein Motorrad noch mit mir gemeinsam gepackt, bevor ich dann aufgebrochen bin. Das war schon sehr bewegend.

Was hatten Sie schließlich bei Ihrer Flucht dabei?

Ich hatte mir, wie gerade kurz erwähnt, noch ein Motorrad gekauft, eine TZ 250. Das war damals das größte Modell, was man kaufen konnte, damit ich auch ja ordentlich nach Ungarn fahren konnte. Sogar der Motor wurde noch umgebaut und überarbeitet. Das Motorrad war mir auch sehr wichtig und hatte zudem noch zwei Seitenkoffer, in denen ich dann Kleidung drin aufbewahrte. Ich hatte sozusagen nur das Nötigste mit und schließlich noch meinen Motorradhelm.

Mit einem Motorrad, einem Motorradhelm, ein paar Kleidungsstücken, nicht mehr und nicht weniger, machte sich der damals 18 jährige L. Bräuer auf den Weg. Ist dem ehemaligen DDR- Bürger schließlich die Flucht in die Bundesrepublik gelungen? Gab es vielleicht Komplikationen oder womöglich sogar Konsequenzen aufgrund des Fluchtversuchs? Im zweiten Teil der Geschichte unseres Zeitzeugen erfahrt ihr alles über seinen Fluchtversuch, wie leicht man dabei sein Leben aufs Spiel setzte und die Zeit danach!