eine Glosse

Da rattert der Politikexpress auf holprigen Schienen durch das Tal der Verzweiflung und vorne streiten sich die Zugführer, ob man nun bremsen oder Gas geben soll. Ja, ganz ehrlich, so hätte man sich wahrscheinlich gefühlt, wenn man unsere Gesellschaft in einen Zug stecken und aus dem Fenster schauen würde. Und wenn dann jeder einzelne Waggon noch seinen eigenen Zugführer hat, tja, dann wird es kompliziert und es kommt zu Verspätungen. Gott sei Dank gilt der Föderalismus nicht bei der Bahn, aber Verspätungen dürfen wir uns in dieser Pandemie nun wirklich nicht erlauben. Seit über einem Jahr wird dieses Land augenscheinlich nur von Wirtschaftsverbänden und Virologen regiert, die unsere Politiker vor sich hertreiben. Deren Kreativität erschöpfte sich in Zusammenstellung ausgefallener Wortungetüme wie „Virusvarianten-Gebiet“ und „Hochinzidenzgebiet“, mit denen ihnen der 1. Platz als Unwort des Jahres zweifelsohne sicher wäre.
Aber leider hat dieses Land offenbar seine ganze Kreativität in Wortspiele verpulvert. Dabei blieb die Impfstoffversorgung leider auf der Strecke. Wenn wir jetzt ein reiches Land wären, welches 200 Millionen in Bürgerkriegsländer pumpt oder sämtliche Freibäder in Albanien sanieren würde, ich wäre echt schockiert, dass man kein Geld zum Schutz seiner eigenen Bevölkerung ausgeben möchte.
Gott sei Dank haben wir aber Frau von der Leyen und ihre EU-Kommission. Die achtet auf unser knappes Geld und verhandelt hart um jeden Cent und jede Impfdose. Da wird kein Geld sinnlos verschleudert.
Jedoch gibt es in dieser Welt anscheinend keine Fairness und manche Länder glauben einfach, sich mit viel Geld alles kaufen zu können … zum Beispiel genug Impfstoff für ihre eigene Bevölkerung. Eine beispiellose Dreistigkeit!
Jedenfalls haben wir gegenüber diesen egoistischen und nur an sich denkenden Ländern eines voraus. Nein, kein Impfstoff oder einen Plan zur Weg aus der Krise. Nein. Herz! Jawohl, wir, die Europäer, sind unseren Nachbarn moralisch weit voraus. Wir teilen nämlich den wenigen Impfstoff, den man uns übrig gelassen hat und der noch nicht einmal für uns reicht mit anderen Ländern. Die ewigen Nörgler und EU-Skeptiker nennen das Idiotie. Ich hingegen sage, damit rettet man zwar kein europäisches Leben, ganz im Gegenteil, aber wir können uns moralisch erhaben fühlen.
Hand aufs Herz, was uns bis jetzt vor einer völligen Katastrophe bewahrt hat, ist das kaltblütige Handeln einzelner Politiker gewesen. Da wurde das menschliche Leben zum alleinigen Gut erklärt, das es zu schützen galt. Auch auf Kosten der Wirtschaft. Man war fast geneigt, den schwarz-roten Landesfürsten abzukaufen, dass ihnen das Wohl der Bevölkerung über alles geht. Wäre da unglücklicherweise nicht dieser unselige Termin im September.
Es wird der Eindruck erweckt, die Pandemie und das Leben der Bevölkerung scheint auf einmal gar nicht mehr so wichtig zu sein. Es wird gelockert, wo es nur geht. Zu den tollen (Un-)Wortspielen kommen jetzt noch neue Zahlenspiele hinzu. Wo letztes Jahr noch die 50 und die 100 unabdingbare Hürden zum Schutz des Lebens waren, so sind es jetzt wissenschaftlich fundierte Zahlen wie 165 und 200.
Wäre man boshaft, könnte man annehmen, je näher der mögliche Machtverlust rückt, je mehr tut man alles, um dies zu verhindern.
Das erinnert doch ein wenig an das Mittelalter, da führte der Weg auf den Thron auch über Menschenleben. Oder wenn wir bei unserem Beispiel mit dem Zug bleiben wollen, dann sollten wir vielleicht im September die „Notbremse“ unseres Zuges ziehen und dafür sorgen, dass ein anderer Zugführer von Berlin aus weiterfährt, der dann vielleicht weiß, wann er bremsen oder Gas geben soll.